Eine erste systemische Annäherung an ein bedeutsames Phänomen
(dieser Artikel ist neben einigen anderen erschienen in meinem Buch
Neulich fragte die Leiterin einer Kindertagesstätte, in deren Team ich eine Weiterbildung zum Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung veranstaltete: „Wieso machen wir denn eigentlich diese Schulungen, wenn doch die Rahmenbedingungen in unseren Einrichtungen Kindeswohlgefährdung begünstigen?“
Wie war
es dazu gekommen, dass sie diese Frage stellte? Im Laufe der Auseinandersetzung
mit der Frage, wann und wodurch das Kindeswohl gefährdet sei, wurde allen
anhand eines eigenen Fallbeispiels immer deutlicher, dass in der Einrichtung
selbst Gewalt stattgefunden hatte. Konnte es sein, dass die mit Gewalt
verbundenen Lösungsversuche der Beteiligten zum Problem geworden waren? Konnte
es vielleicht sogar sein, dass der Kontext selbst das Problem war und die
gewaltvollen Handlungen nur ein Ausdruck dessen?
Wenn es
um das Phänomen „Mobbing in der Schule“ geht, sollten wir uns dieselben Fragen stellen.
Betrachten wir aber die übliche Behandlung des Tatbestandes Mobbing in der
Schule, entdecken wir, dass es hierbei zugeht wie bei einer Hetzjagd.
"Mobbing muss in jeglicher Form in der Schule geächtet werden“, so Udo
Beckmann, der Bundesvorsitzende des Verbandes Bildung und Erziehung[1].
Ob er sich bei dieser Aussage dessen bewusst war, dass „ächten“ bedeutet,
jemanden aus einer Gemeinschaft auszustoßen? Diese Maßnahme klingt noch
absurder, wenn wir uns die Definition des Begriffes „Mobbing“ anschauen.
Der Autor und Studiendirektor Karl Dambach schreibt in
seinem Buch „Mobbing in der Schulklasse“[2],
„dass mit ‚Mobbing‘ nur die lange
anhaltende (mindestens über mehrere Monate anhaltende) Ausgrenzung Einzelner
von der Mehrheit bezeichnet wird“. Soll nun also Gleiches mit Gleichem
bekämpft werden? Dies scheint immerhin nicht überall üblich zu sein, denn
kürzlich hörte ich, dass eine Erzieherin ihres Arbeitsplatzes verwiesen wurde,
nachdem sie ein Kind, von welchem sie getreten worden war, zurück getreten
hatte. Aber birgt Beckmanns Forderung nicht einen unlösbaren Widerspruch: Genau
das zu tun, was eigentlich verhindert werden soll? Also mehr desselben? Wenn
wir jetzt aufhorchen, werden wir dank dieses Lösungsversuchs erkennen, dass wir
auf dem Holzweg sind.
Was ist eigentlich „Mobbing“?
Wer oder
was soll denn hier geächtet werden (diese Bezeichnung findet sich
bemerkenswerterweise auch an anderer Stelle, in einer
Pressemitteilung des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes[3])?
Das Phänomen Mobbing? Das ist ein interessanter Gedanke, wenn bedacht wird, in
welchem Zusammenhang dieser Begriff ursprünglich verwendet wurde. Der Zoologe
Konrad Lorenz beschrieb Anfang der 1960er Jahre ein bestimmtes Verteidigungsverhalten vieler Vogelarten,
die sich zu einer Gruppe zusammentaten, um gemeinsam durch Alarmrufe und
Scheinangriffe einen Fressfeind oder anderen überlegenen Gegner in die Flucht
zu schlagen (das konnte auch ein Artgenosse sein, der die eigene Brut
bedrohte). Dieses Verhalten nannte er „Hassen“ (Singvögel beispielsweise „hassen
besonders intensiv auf“ Eulen), was auf Englisch „Mobbing“ bedeutet.
Mobbing
ist also in seinem ursprünglichen Sinne ein sinnvolles Verhalten: Eine
Lösungsstrategie in Notsituationen. Gleichzeitig ist dieses Verhalten ein
Ausdruck des Erlebens von Gefahr, das heißt, wenn die entsprechenden Lebewesen
etwas als gefährlich wahrnehmen, greifen sie zu diesem Verhaltensmuster, um die
vielleicht nur vermeintliche oder gar tatsächliche Gefahr abzuwenden.
Greifen
nun junge Menschen in der Schule zum Verhaltensmuster Mobbing, stellt sich dann
nicht die Frage nach dem Sinn dieses Verhaltens? Ist es denkbar, dass diese
jungen Menschen sich in einem Verteidigungsmodus befinden, da sie sich in einer
Notsituation erleben? Eine Situation, in der sie sich bedroht fühlen von Gefahren
für ihren Selbstwert, ihre Würde, ihre Integrität und Freiheit, für ihr
Selbstvertrauen, ihr Gefühl von Selbstwirksamkeit, für ihre Selbstbestimmung und
ihr Potential zur Selbstentfaltung – kurzum: für ihr Leben? Sind es also
vielleicht die Rahmenbedingungen, die Mobbing begünstigen oder überhaupt erst
hervorrufen? Und was sagt uns umgekehrt das Phänomen Mobbing über diese
Rahmenbedingungen?
Diese
Fragen leiten hin zu dem eigentlichen Schlüsselgedanken, der zum besseren
Verständnis der Problematik führt: Mobbing ist ein Symptom, ein Kennzeichen,
ein Hinweis darauf, dass das System, innerhalb dessen es auftritt, gestört ist.
Um diesen
Gedanken zu veranschaulichen, betrachten wir einmal beispielhaft und sehr
vereinfacht dargestellt das kleine „System“ Familie. Kennzeichnend für dieses
System ist, dass seine Mitglieder in Beziehungen zueinander stehen und
miteinander kommunizieren. In der Familientherapie ist häufig zu beobachten,
dass ein Familienmitglied, meist ein Sohn oder eine Tochter, als diejenige
Person beschrieben wird, die das Problem „hat“. Wer aber genauer hinschaut,
stellt zumeist fest, dass es im Bereich der Beziehungen und in der
Kommunikation zwischen den Familienmitgliedern (meist verdeckte)
Schwierigkeiten bzw. Störungen gibt. Die Person, die als Problem vorgestellt
wird, „besitzt“ nicht das Problem, sondern „trägt“ es. Sie übernimmt eine ganz
wichtige und für die Familie wertvolle Rolle, indem sie zum einen das
dysfunktionale System stützt und vor Zusammenbruch bewahrt und zum anderen signalisiert:
„Hier stimmt etwas nicht“. Um dies zu verdeutlichen folgendes Beispiel: Eltern
kommen mit ihrem neunjährigen Sohn, der seit Wochen wieder einnässt. Im Laufe
des Gesprächs kommt heraus, dass die Eltern schon seit langer Zeit überlegen,
sich zu trennen. Das „Problem des Sohnes“ übernimmt hier die Rolle, die Eltern
durch ihre gemeinsame Sorge zu verbinden und lenkt den Fokus weg von den Beziehungsproblemen
hin zu einem anderen Problem: dem Einnässen. Gleichzeitig dient es als Signal
des Sohnes: „Ich merke, dass etwas nicht stimmt.“ Würde hier nun die
Aufmerksamkeit ausschließlich auf den Jungen gelegt werden und ein irgendwie
geartetes Schließmuskel- oder Toilettentraining oder gar eine medikamentöse
Behandlung, bliebe die Funktion bzw. die Botschaft dieses Symptoms völlig
unberücksichtigt.
Wenn nun Mobbing in der Schule gleichermaßen Ausdruck eines
dysfunktionalen Systems ist, so würden wir mit Ächtung genau das Gegenteil tun,
als das, was dieser „Rolle“ zusteht. Ächtung ist die große Schwester der
„Verachtung“, also der dauerhaften Abwertung. Was Mobbing als Symptom aber
braucht, ist sowohl Achtung im Sinne von Anerkennung als auch Beachtung im
Sinne von Interesse an dessen Botschaft.
Ächtung statt Achtung?
Stattdessen
werden im Zuge der Ächtung Schuldige gesucht und gefunden und schlimmstenfalls
zu „Tätern“ gemacht und bestraft. Dabei wird gerade hier wieder die Paradoxie
dieser Vorgehensweise deutlich. In einem Interview erzählt Zoë Readhead, die
Leiterin der bekannten Demokratischen Schule Summerhill in England, wie dort
mit Mobbing umgegangen wird: „Das ist bei uns zum Glück kein großes Thema, weil
solche Vorfälle immer schnell ans Licht kommen. Besonders die älteren Schüler
sind da wachsam. Aber wer tatsächlich jemand anderen mobbt, kommt auf die
Mobbingliste: Er wird von allen Gemeinschaftsveranstaltungen ausgeschlossen und
muss sich als Letzter in der Reihe beim Essen anstellen.“[4]
Wie kann ein mehr desselben zu weniger desselben führen?
Um es
noch anders und mit den Worten Astrid Lindgrens auszudrücken, die sie 1978 in
ihrer Rede anlässlich der Verleihung eines Deutschen Friedenspreises gebrauchte:
„Das aber hieße den Teufel mit
dem Beelzebub austreiben und führt auf die Dauer nur zu noch mehr Gewalt und zu
einer tieferen und gefährlicheren Kluft zwischen den Generationen.
Möglicherweise könnte diese erwünschte ‚härtere Zucht‘ eine äußerliche Wirkung
erzielen, die die Befürworter dann als Besserung deuten würden. Freilich nur so
lange, bis auch sie allmählich zu der Erkenntnis gezwungen werden, dass Gewalt
immer wieder nur Gewalt erzeugt – so wie es von jeher gewesen ist.“[5]
Um den
Kreislauf ein wenig zu verdeutlichen, eine kleine Anekdote aus dem Leben eines
zwölfjährigen Jungen:
Dieser
Junge berichtete mir, er komme in der Schule mit den Lehrern und Mitschülern
nicht gut aus, streite sich häufig und fühle sich oft schlecht, ungerecht
behandelt und allein. Er sei schon ein paar Mal von der Schule suspendiert oder
weggeschickt worden. Ich fragte nach, aus welchem Grund. Da erzählte er mir die
zuletzt geschehene Begebenheit: Ein Mädchen aus seiner Klasse habe ihm die Hose
heruntergezogen. Daraufhin sei er zu der Lehrerin gegangen, die sagte, er solle
das selbst klären. Das habe er getan – und dem Mädchen die Hose
heruntergezogen. Daraufhin sei er wieder suspendiert und in einem Brief von der
Schule der sexuellen Belästigung bezichtigt worden.
Eine ganz absurde Geschichte, die zwar offenlässt, ob hier von Mobbing
gesprochen werden kann, aber offenbart, dass das Täter-Opfer-Konzept unbedingt
infrage zu stellen ist. Könnte es Situationen geben, in denen gar der „Täter“
selbst das „Mobbingopfer“ ist?
Was ist Gewalt?
Der
Begriff „Gewalt“ stammt vom
althochdeutschen Wort „waltan“ ab, welches „stark sein, beherrschen“ bedeutet.
Der Zusammenhang zu „Herrschaft“ im Sinne einer institutionalisierten Form von
Über- und Unterordnung drängt sich nicht nur auf, im rechtsphilosophischen
Sinne sind beide Begriffe sogar gleichbedeutend.
Marshall
Rosenberg, der das Konzept der „Gewaltfreien Kommunikation“ entwickelt hat,
sagt, dass wir Menschen seit über 8000 Jahren in von Herrschaft geprägten
Strukturen leben, in denen ein paar Leute, die für sich in Anspruch nehmen,
besser zu sein, als die anderen, diese kontrollieren. Unsere Art der Erziehung
sei an diese Strukturen angepasst bzw. genau dafür geeignet, um diese
aufrechtzuerhalten.
Demnach wäre das Phänomen Mobbing ein
Ausdruck von Herrschaft in Form von Machtausübung, welcher die Struktur unserer
Erziehungs- und Schulkultur widerspiegelt. Rosenberg liefert eine
beeindruckende Beschreibung dessen, was unsere Art der Erziehung kennzeichnet,
die von einem nicht weniger beeindruckenden Ergebnis gekrönt wird: Die
gründliche, gelungene Erziehung erschafft entweder „nette tote Menschen“, die
tun, was ihnen gesagt wird – mögen wir sie vielleicht lieber als brav,
angepasst oder wohlerzogen bezeichnen –, oder „Monster“[6].
Eignen sich diese beiden nicht wunderbar für die Rollenbesetzung der
antagonistischen Gegenspieler in einem Psychodrama mit dem Titel „Mobbing in
der Schulklasse“?
Wenn also Mobbing in den Rahmenbedingungen des Systems wurzelt,
in dem es stattfindet (z. B. Arbeitsplatz, Schule, Familie), und nur die
Äußerungsform eines Problems ist, dann müssen wir uns die Frage stellen, wie
diese Rahmenbedingungen sein müssen, damit es überhaupt gar keinen Anlass für
Mobbing mehr gibt. Es lohnt sich, diesen Gedanken noch auszuweiten: Mobbing ist
nur eine Form von Gewalt. Wurzelt
Gewalt generell in den Rahmenbedingungen unserer Gesellschaft, und wie müssten
sich diese dann wandeln, damit es schließlich keinen Anlass für Gewalt mehr gibt?
Sind wir schon auf dem richtigen Weg?
Betrachten
wir unsere jüngere Geschichte, stellen wir fest, dass bereits ein Wandel
stattgefunden hat. Wie wir wissen, waren bis in die 1970er Jahre Körperstrafen
gängige und akzeptierte Erziehungsmittel, welche nicht als schädigend, sondern
im Gegenteil als der Menschwerdung des Zöglings förderlich angesehen wurden. So
hatte in Deutschland bis 1928 ein Familienvater nicht nur das Recht, seine
Kinder, sondern auch seine Frau zu züchtigen. Erst ab 1957 durfte auch die
Mutter ihre Kinder züchtigen, davor war dieses Recht dem Vater vorbehalten. Bis
1973 hatten Lehrer und Eltern das gemeinsame Züchtigungsrecht (in der DDR
allerdings nur bis 1949, in Bayern dagegen bis 1980) und bis 2000 hatten es
schließlich nur noch die Eltern. Seitdem haben Kinder ein „Recht auf
gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und
andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig“. Dieses Recht ist im §1631 des
Bürgerlichen Gesetzbuches verankert, im Bereich der „Elterlichen Sorge“[7].
Somit legt der Gesetzgeber fest, dass Gewalt gegenüber Kindern nicht toleriert
wird.
Hans
Schleicher, Experte für Familienrecht, liefert eine Darstellung dessen, was
unter Gewalt in der Erziehung zu verstehen ist[8].
Er
betont, dass der Begriff
„Recht“, im Gegensatz zu dem des „Gebots“, deutlich machen soll, dass der junge
Mensch als Subjekt-Person mit eigener Würde ein Recht auf die Achtung seiner
Grundrechte hat. Wenn wir davon ausgehen, dass die Grundrechte eines Menschen
an keine Bedingungen geknüpft sind (was das Grundgesetz voraussetzt), könnte es
problematisch sein, dass
sowohl der Gewaltbegriff als auch die Bewertung von Gewalt davon abhängen, in
welchem Kontext eine Handlung stattfindet. Dabei ist die Frage, ob eine
Handlung als Gewalt definiert wird, noch einmal eine ganz andere als diejenige,
ob diese Handlung toleriert wird.
Schleicher
macht deutlich, dass der Terminus „Gewalt“ im Rahmen des §1631 des BGB nicht im
strafrechtlichen Sinne zu verstehen ist. So stelle es, „im Kontext der elterlichen Sorge z. B. noch keine
Gewalt dar, wenn Eltern ihr Kind hindern, das Elternhaus zu verlassen, während
im Strafrecht jedes (und somit auch dieses) Festhalten eines Menschen gegen
dessen Willen zunächst einmal als ‚Gewalt‘ bezeichnet werden müsste – ohne dass
damit jedoch bereits etwas über die Strafbarkeit ausgesagt wäre.“
Heißt das jetzt, wenn wir Kinder „als Menschen“ sehen, wäre das
Festhalten Gewalt, wenn wir sie hingegen „als Kinder“ sehen, wäre dies nicht
Gewalt, sondern Erziehung? Wie sieht es denn gewaltdefinitorisch und
strafrechtlich in der Situation aus, wenn Eltern ihr Kind dazu veranlassen oder
gar zwingen müssen, gegen seinen ausdrücklichen Willen das Elternhaus zu
verlassen, um in die Schule zu gehen? Und wie sieht es diesbezüglich aus, wenn
die Schule ein Kind daran hindert,
diese zu verlassen – gegen seinen ausdrücklichen Willen? Was ist, wenn ein Kind
in der Schule Gewalt erfährt, z. B. durch Mobbing, und deshalb nicht mehr
dorthin will?
Das Recht auf gewaltfreie Erziehung –
nur Ansichtssache?
Als
Gewalt werden „körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere
entwürdigende Maßnahmen“ genannt. Hinsichtlich körperlicher Gewalt wären sich
vermutlich alle einig bei der Beurteilung der gewalttätigen Vorfälle, die in
den Medien Beachtung finden. Aber Diskussionen um den berühmten „Klaps“ oder
andere als „maßvoll“ und „angemessen“ angesehene Maßnahmen zum Zwecke der
Erziehung, offenbaren ein gewisses definitorisches Spektrum. Noch größere
Uneinigkeit zeigt sich meist in Gesprächen darüber, was unter „seelischen
Verletzungen“ und „anderen entwürdigenden Maßnahmen“ zu verstehen ist. Als mögliche Beispiele dafür nennt Schleicher
Bestrafungen wie Kürzen des Taschengeldes, zeitweiliges Spiel-, Fernseh- oder
Kino-Verbot oder auch Hausarrest, welche zwar nicht verboten seien, aber „in
krassen Übermaßfällen (z. B. bei längerem völligem Einsperren)“ eventuell diese
darstellten.
Wie sieht es denn eigentlich aus, wenn Menschen
jahrelang beinahe täglich für mehrere Stunden in einem Raum eingesperrt und von
der Vielfalt des Lebens und den Angelegenheiten der Welt ausgeschlossen werden?
Der Sozialpädagoge Frank
Schallenberg bezeichnet in seinem Buch „Ernstfall Kindermobbing“[9]
Mobbing als einen „massiven, aggressiven
Eingriff in das Leben und Handeln eines anderen Menschen“, der sich
typischerweise „regelmäßig über einen
längeren Zeitraum“ vollzieht. Liegt demnach bei dem beschriebenen Prozess, der
ja unser Schulsystem kennzeichnet, nicht eben dieser Ernstfall Kindermobbing
vor?
Der Begriff „seelische Verletzungen“ ist laut Schleicher „relativ unbestimmt und
somit ausfüllungsbedürftig“. Wäre es zynisch zu behaupten, der Umstand, dass
das Recht der Kinder auf gewaltfreie Erziehung nur gegenüber den Eltern zu
bestehen scheint, vereinfache die „Ausfüllung“ dieses Begriffes?
Es bleibt
der Eindruck, dass es wirklich vom Kontext abhängt, ob Gewalt toleriert wird
oder nicht, und davon, von wem sie ausgeübt wird. Eine Sequenz, die in einem
Artikel zum Thema „ADHS“ in einer bekannten psychologischen Fachzeitschrift
dargestellt wurde, verdeutlicht das: Es handelt sich um ein Szenario in einem
Therapiezentrum in einer großen Stadt in Deutschland:
„...schon
prescht ein blondes Energiebündel herein. Der fünfjährige Junge gibt brav die
Hand und sagt Guten Tag, doch in seinen Augen glitzert es verdächtig: Was
machen wir heute? Was passiert als Nächstes? Man merkt: Der Junge würde am
liebsten sofort loslegen, kann seinen Elan kaum zügeln.
Zuerst aber heißt es für ihn, sich still hinzusetzen, auf einer Matte in der
Ecke, neben dem kleinen Tisch, an dem seine Mutter mit der Sozialarbeiterin
redet. Er darf sich ein Spielzeug aussuchen, mit dem er sich allein
beschäftigen soll, solange die Frauen ins Gespräch vertieft sind. Der Junge
wählt die Legosteine. Seine Aufgabe lautet, nicht dazwischenzureden, während
seine Mutter berichtet, wie es in der vergangenen Woche mit ihrem Sohn lief.
Die Therapeutin stellt dem Jungen eigens die Uhr. 15 Minuten muss er
durchhalten – und wann immer er den Frauen ins Wort fällt, nimmt die
Sozialarbeiterin einen Spielstein aus einer Schale. Die Zahl der verbleibenden
Steine bestimmt darüber, wie lange sie hinterher alle zusammen spielen.
Die Sache geht nicht lange gut. Nach wenigen Minuten wandert der erste bunte
Plastikwürfel aus der Schale. Der Junge schaut irritiert, doch die Frau
ermuntert ihn, weiterzuspielen, so wie abgemacht. Das tut er auch, zumindest
für einen Moment. Dann fällt er seiner Mutter erneut ins Wort - und schwupp ist
der nächste Spielstein weg. Der Junge ist ein echter Zappelphilipp...“[10]
Wem der
Begriff „Folter“ hierfür zu krass erscheint, der sei kurz auf dessen Definition
hingewiesen, der zufolge Folter das „gezielte Zufügen von psychischem oder
physischem Leid (Gewalt, Qualen, Schmerz, Angst, massive Erniedrigung)“
darstellt, „meist als Mittel für einen bestimmten Zweck“, um zum Beispiel „den
Willen und den Widerstand des Folteropfers (dauerhaft) zu brechen“[11].
Auf gar keinen Fall ist davon auszugehen, dass die beiden in der Szene
dargestellten erwachsenen Frauen in der Absicht handeln, dem Jungen Leid
zuzufügen. Im Gegenteil: Sie handeln nach bestem Wissen und Gewissen in der
Überzeugung, dies sei zu seinem Besten. Gleichwohl ist es ein gezieltes Handeln
mit dem Zweck, den Willen des Jungen zu brechen, ihn gefügig zu machen, ihn
einer von außen gegebenen Struktur (die er nicht versteht und nicht erklärt
bekommt!) und von anderen gesetzten Maßstäben zu unterwerfen. Ist es nicht
zutiefst erniedrigend, einen Platz zugewiesen und eine Zeitstruktur aufgezwungen
zu bekommen, innerhalb der ein Mensch schweigend erdulden muss, wie zwei andere
Personen über ihn reden? Und dies bei
Ankündigung und Ausführung von
Strafe. Ist es zudem nicht geradezu abartig, dass das „Glitzern“ in den Augen,
der „Elan“, also der offensichtlich feurige Tatendrang und die Neugierde auf
das, was nun kommen wird, als etwas Negatives, zu Unterdrückendes, zu
Beherrschendes angesehen wird? Allein der Versuch, sich anstelle des Jungen
einen erwachsenen Menschen vorzustellen, macht die Unmöglichkeit dieser
Situation deutlich.
Ende der
1970er Jahre begann der Psychologe Heinz Leymann die langjährige Erforschung
des Phänomens Mobbing am Arbeitsplatz und erstellte schließlich einen Katalog
von Mobbinghandlungen – ein sogenanntes „Psychoterror-Inventar“ (Leymann Inventory of Psychological Terror[12]).
Darin finden wir Handlungen wie die Einschränkung der Möglichkeit, sich zu
äußern durch Vorgesetzte oder Kollegen, Kontaktverweigerung, „man spricht nicht mehr mit
dem Betroffenen“, „man wird wie Luft behandelt“, man erhält „sinnlose“ oder
„kränkende“ Arbeitsaufgaben,
„hinter
dem Rücken des Betroffenen wird schlecht über ihn gesprochen“ oder auch die
Verdächtigung, „psychisch krank zu sein“. Es ist schon beeindruckend: Was in
der Arbeitswelt von Erwachsenen Mobbing sein kann, ist in der Welt der Kinder
„pädagogisch wertvoll“.
Aber Karl Dambach betont ja auch, es gebe
zwar unterschiedliche Arten, wie Individuen ausgegrenzt würden, aber keine
„typischen Mobbinghandlungen“. Das Entscheidende sei das regelmäßige Auftreten
gegen dieselbe Person über einen länger andauernden Zeitraum hinweg. Ob dies
für den Jungen mit den glitzernden Augen zutreffen mag, wird davon abhängen,
inwieweit er in der Lage ist, sich in die ihm aufgebürdete Struktur einzufügen.
Gelingt es ihm, innerhalb dieser zu „funktionieren“, wird er möglicherweise
bald von oben beschriebenen Maßnahmen verschont bleiben. Wird er seine
Lebensenergie und den unbändigen Drang nach Lebendigkeit hingegen nicht
unterdrücken und einkerkern lassen, so wird er es vermutlich schwer haben. Sein
Verhalten wird weiterhin als unangemessen und anstrengend empfunden werden und
er selbst bald als „nicht tragbar“.
Dennoch können wir hoffen …
Ebenso
wie Astrid Lindgren davon ausging, dass wir eines Tages zu der Erkenntnis
gezwungen sein werden, dass Gewalt immer wieder nur Gewalt erzeugt (und
schließlich sind nur ein Jahr nach ihrer Rede körperliche Bestrafungen und
sonstige kränkende Handlungen in Schweden gesetzlich
verboten worden und nur 21 Jahre danach auch in Deutschland), denkt auch Marshall Rosenberg, dass unsere Art von Erziehung und die Gewalt, die
daraus entsteht, eine vorübergehende Sache ist. Wenn wir die gesamte
Menschheitsgeschichte betrachten, dann sind 8000 Jahre nur ein kleiner
Abschnitt, „und wir werden relativ schnell wieder zu dem zurückkehren, was für
uns natürlich ist“[13]. Auch der Blick in unsere jüngste Vergangenheit
gibt uns Anlass zur Hoffnung. Wir können uns heute nicht mehr vorstellen, dass
noch vor 60 Jahren Frauen keine Rechtssubjekte waren. So werden wir uns eines
Tages auch nicht mehr vorstellen können, dass Kinder einst Objekte von
Erziehung und Beschulung waren, deren Grundrechte ihnen nur unter bestimmten
Bedingungen gewährt wurden. Freilich bedarf es bis dahin noch einiger darzustellender
Erkenntnisse und reflektorischer Auseinandersetzungen. Wir werden hoffentlich
sehr bald dankbar sein, dass die jungen Menschen niemals aufhörten, Symptome zu
produzieren, um uns zu zeigen, dass etwas an den Bedingungen, unter denen wir
alle lebten, nicht stimmte. Wir werden uns mit bitterem Herzen daran erinnern,
dass wir ihre Signale lange genug – viel zu lange – nicht wahrnahmen und nicht
verstanden. Dass wir darauf reagierten, indem wir sie ruhigstellten, sie
einsperrten – in Schulen oder, wenn sie sich denen entziehen wollten, in
Psychiatrien oder Gefängnissen – sie pathologisierten und mit Medikamenten
„funktionstüchtig“ machten. Wir werden uns sagen: „Zum Glück konnten wir diesen
Kreislauf der Gewalt durchbrechen und uns dem weiter nähern, was für uns gesund
und natürlich ist.“
[1] http://bildungsklick.de/pm/83505/mobbing-keine-chance-geben/
[2] Karl E. Dambach, Mobbing in der Schulklasse, Reinhardt
2009
[3] http://bildungsklick.de/pm/80762/schulen-muessen-junge-leute-stark-machen/
[4] http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/36943/2/1
[5] http://efraimstochter.de/astridlindgren/friedenspreis_des_deutschen_buchhandels.shtml
[6] http://www.dialog-herold.de/videobeispiele.html
[7] http://dejure.org/gesetze/BGB/1631.html
[8] http://www.fzpsa.de/Recht/Fachartikel/familienrecht/gewaltfrei/gewaltfreischleicher
[9] Frank Schallenberg, Ernstfall Kindermobbing. Das können Eltern
und Schule tun, Claudius 2004
[10] Gehirn&Geist, Das
Magazin für Psychologie und Hirnforschung: ADHS.
Was macht Kinder hyperaktiv? Ausgabe 9/2012
[11] http://de.wikipedia.org/wiki/Folter
[12] http://www.mobbing-zentrale.ch/wastun.htm
[13] http://www.dialog-herold.de/videobeispiele.html
Ja, hoffentlich können wir bald auf diese schlimme Zeit zurück blicken und froh sein, daß unsere Kinder das nie wieder erleben müssen!
AntwortenLöschenEs ist ja eben nicht nur ein Missverständnis, was aber Aussenstehende nie verstehen. Im Beruf hat Mobbing ja auch Konsequenzen, wenn derjenige zum Anwalt für Arbeitsrecht geht. Daher kann Mobbing ja nicht nur ein Versehen sein. Und selbst wenn es so wäre, schützt es vor der Strafe nicht.
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